Skischuh in Aufstiegsposition Skischuh in Aufstiegsposition
09 Januar 2024

Test Tecnica Zero G Tour Pro

Der leichte Freetouring-Schuh im Fokus - oder: Liebe auf den ersten Schritt!

Zusammenfassung und Fazit

Grundsätzlich gilt, dass der beste Schuh der ist, der passt. Mit dem Tecnica Zero G Pro bekommt man einen spitzenmäßigen, leichten und abfahrtsorientierten Skitourenschuh für Leute, die es bei der Abfahrt krachen lassen wollen. Tecnica gibt an, die beste Out-of-the-Box-Passform zu haben, was ich nur bestätigen kann. Der Schuh ist grundsätzlich auf das Wichtigste reduziert, viele Kleinigkeiten und Details ergeben aber ein Top-Produkt. Mir gefällt der relativ geringe Vorlagewinkel von 12,5°, da man nach vielen Höhenmetern erfahrungsgemäß nicht mehr so viel Schmalz in den Oberschenkeln hat und auch bei schlechteren oder wechselnden Schneeverhältnissen noch neutral am Ski stehen kann. Außerordentliche Stabilität erlangt der Zero G Tour Pro durch den doppelt blockierenden Verschluss, und durch den hohen Flex und die damit verbundene gute Kraftübertragung auf Bindung und Ski muss man den Schuh nicht übermäßig hart zumachen.

Handling perfekt, keine Änderungswünsche anzumerken - 10 von 10 Punkten erreicht!

Vielleicht erinnern sich manche noch an den Scarpa Hurricane Pro von 2012. Ein gelb-schwarzer Schuh mit einem 125er Flex, aber ohne Pin-Inserts. Er war bisher mein bester Skitourenschuh, doch der Tecnica Zero G Tour Pro ist sein würdiger Nachfolger, nur etwas schmäler und etwas besser. Ihr werdet ihn lieben!

Allgemeines

Der Winter hat zwar kurz die Pausetaste gedrückt, für Mitte Jänner kündigen die Meteorologen aber Veränderung an. Wer auf einen neuen Skitourenschuh spekuliert, kann noch aus dem Vollen (Lager) schöpfen und erhascht schon das eine oder andere nachweihnachtliche Schnäppchen. Doch wie jedes Jahr werfen die Firmen unzählige neue Modelle für unterschiedliche Anforderungen und auf den ersten Blick verwirrenden Spezifikationen auf den Markt. Wie behält man da noch den Überblick?

Durch den Boom des Skitourengehens sind viele, oft auch nicht so gute Skifahrer am Berg, die ein winterliches Naturerlebnis oder Bewegung im Freien erleben wollen. Ihre Touren führen über (aufgelassene) Skipisten oder technisch wenig anspruchsvolles Gelände und die Abfahrt ist - wie der Aufstieg - Teil des Erlebnisses.

Im Gegensatz dazu steht die Gruppe der abfahrtsorientierten Skitourengeher, die ihre technischen Fähigkeiten in alpinem Gelände bei möglichst optimalem Schnee nutzen wollen. Oder anders ausgedrückt - es geht ums Ballern im Tiefschnee! Und während die erste Gruppe gut mit Kompromissen leben kann - Stichwort maximale Gewichtsreduktion, möglichst wenige Schnallen etc. für möglichst guten Komfort - braucht die zweite Gruppe präzise Werkzeuge, welche die eingesetzte Kraft optimal auf den Ski übertragen können.

Mit dem Zero G Tour Pro haben wir uns also bewusst für den abfahrtsorientierten Schuh der Zero-G-Kollektion entschieden. Insgesamt umfasst die Kollektion fünf verschiedene Modelle, dazu aber später.

Volumen und Gewicht

Tecnica bezeichnet den Schuh vom Volumen her als MV, was soviel wie Mid Volume bedeutet und Schuhe um die 100mm Leistenbreite meint. Mit einer Leistenbreite von 99 Millimetern (bei allen fünf Modellen der Zero-G-Kollektion) ist er im Vergleich mit Skitourenschuhen der Konkurrenz im unteren Mittelfeld angesiedelt und eher auf der schmalen bis mittleren Seite. Tecnica kann diesen Schritt wagen, da sowohl der Innenschuh als auch die Schale mit der C.A.S-Technologie versehen ist. C.A.S bedeutet Custom-Adaptive-Shape-System. Hinter dem Kürzel verbirgt sich die Idee, dass beide Teile, sowohl Innenschuh als auch Schale, von vorn herein schon der Anatomie entsprechend geformt sind und vom Fachhändler zusätzlich noch angepasst werden können (sogenanntes Boot Fitting).

Tecnica gibt das Gewicht des Schuhs im Internet mit 1340 Gramm an. Der von uns getestete Schuh hat bei einer Größe von 28,5 (EU 44) einen gemessenen Wert von 1551 Gramm.

  •  

Schale und Schaft

Die harten Fakten: 130er Flex, vier Schnallen plus Power-Lock-Strap, Pin-Inserts, 60° Schaftrotation (Bewegungswinkel) für den Aufstieg, 12,5° Vorlage (13,5° durch Umbau möglich) bzw. weitere 2° durch die Verwendung eines Spoilers.

Der Zero G Tour Pro ist mit seinem 130er Flex ein sehr harter Schuh, mit dem man die Kraft einfach auf den Ski übertragen kann. Die Kombination aus Konstruktion, Material (Schaft aus Co-Injected-Carbon, Schale aus Grilamid), den vier genialen Schnallen und dem innovativen Schaftriemen ermöglichen es, dass man den Schuh nicht voll „anknallen“ muss, um eine gute Abfahrtsperformance zu erreichen. In letzter Zeit ist zu beobachten, dass Tourengeher versuchen, mit leichten, abgespeckten 3- oder sogar 2-Schnallern mit 130er Flex dieselbe Stabilität zu erreichen. Das führt dazu, dass die Schnallen und Straps so fest wie möglich angezogen werden, bis die Durchblutung im Fuss verringert wird. Abgesehen davon, dass so das Wohlbefinden in den Beinen eine Katastrophe ist, erreicht man mit diesen Schuhen trotzdem nicht dieselbe Performance, auch wenn vergleichbare metrische Einheiten (z.B. Flex) angegeben werden. In diesen abgespeckten Schuhen wird oft auch zu viel Carbonfaseranteil verbaut, was den Schuh unangenehm steif werden lässt.

Für Steifigkeit bzw. Beweglichkeit verantwortlich und noch nicht genannt ist das Mobility-Cuff-System (deutsche Übersetzung in etwa Schaftmobilitätssystem). Schaft und Schale sind über zwei Gelenke miteinander verbunden und erlauben im Aufstieg einen guten Bewegungswinkel von über 60°. Damit können technische Anstiege problemlos gemeistert werden. Der wirklich herausragende Teil des Mobility-Cuff-Systems steckt aber im doppelt (!) blockierenden Verschluss (Double-Blocking-Mechanism), der wesentlichen Anteil an der fantastischen Abfahrtsperformance des Schuhs hat. Der untere, schwarze Teil des Mechanismus rastet, wie bei vielen anderen Systemen, bei einem bestimmten Winkel ein (zusätzlich greift ein federunterstützes Häkchen). Gleichzeitig, und das ist das Wesentliche, spreizt sich ein zweiter, oranger Teil nach oben hin ab und arretiert. Somit kann sich der Schaft weder in die eine, noch in die andere Richtung bewegen. Der Mechanismus lässt sich sehr einfach bedienen und funktioniert auch gut bei allen Schneeverhältnissen.

Das Einsteigen in den Schuh ist dank der Quick-Instep-Funktion sehr einfach. Hier wurde im Bereich des Rists ein erweiterter Bereich aus weichem Kunststoff verbaut, der das Ein- und Aussteigen sehr erleichtert. Im Internet findet man zwar Testberichte, die das Gegenteil behaupten, was ich jedoch in keiner Weise nachvollziehen kann.

Die vier einstellbaren Schnallen funktionieren nach dem Prinzip eines Spannhebelverschlusses, wobei die Zugglieder nicht starr sind, sondern aus Drahtschlaufen bestehen. Sie lassen sich sehr einfach und gut bedienen. Die beiden Schnallen an der Schale sind gegenläufig und mit Nieten fix angebracht. Die beiden Zahnleisten der oberen Schnallen lassen sich versetzen und der Wadenstärke anpassen. Außerdem können die beiden Schnallen am Schaft im Aufstieg auch nach vorne fixiert werden. Dabei werden die Zugglieder in einen für den Aufstieg konzipierten Spannhebel eingelegt. Dies ist quasi ein vorgefertigter Aufstiegsmodus.

Zusätzlichen Halt gibt der Power-Lock-Strap, der nicht mehr über einen Klettverschluss, sondern mittels Haken geschlossen wird. Dies ist einerseits schneller und andererseits langlebiger, da es keinen Klettverschluss mehr gibt, der gefühlt am Ende jeder Saison kaputt ist, weil sich die Nähte auflösen.

Als Sohle ist eine klassische Vibram-Sohle mit zwei unterschiedlichen Härten (Dual-Densitiy-Rubber) verbaut. Im Bereich der Bindung und größten Abnutzung (also Ferse und Zehenbereich) befindet sich der orange, härtere Gummi, ansonsten der schwarze, weichere Gummi, der für gewohnt guten Halt sorgt.

Was es nicht gibt, und das ist auch gut so, ist irgendeine Form von Canting-System oder Inbusschrauben beim Gelenk von Schaft und Schale. Wer schon mal erlebt hat, dass sich im ungünstigsten Moment, nämlich am Beginn der Abfahrt, irgendeine Schraube löst und sich der Skischuh auflöst, weiß, wovon ich rede… Diesbezüglich hat Tecnica das KISS-Prinzip - Keep it simple and stupid - vorbildlich durchgezogen!

Innenschuh

Der Innenschuh ist, wie eingangs bereits erwähnt, standardmäßig der Anatomie entsprechend vorgeformt. Mit der C.A.S.-Technologie ist er zusätzlich noch thermoformbar bzw. lässt sich das C.A.S.-Material (hartgummiartiges, gelochtes Material im Fersenbereich) noch abschleifen, sollte es irgendwo drücken.

Die Vorformung und das spezielle Material im Fersenbereich sorgen dafür, dass die Ferse dort bleibt, wo sie sein sollte. Oberhalb der Ferse, etwa in der Hälfe des Innenschuhs, ist eine Flex-Struktur verarbeitet, die, wie der Name schon sagt, beim Aufstieg die Bewegung mitmachen kann. Dies verlängert einerseits die Lebensdauer des Innenschuhs und erleichtert andererseits das Gehen.

Die Einlegesohle wirkt etwas unvollständig und wenig stabil ausgelegt, wobei sie bisher problemlos funktioniert hat. Vielleicht geht Tecnica davon aus, dass die meisten Tourengeher ohnehin eine spezielle Einlagesohle kaufen, die auf den eigenen Fuß abgestimmt ist. Eine wasserdichte und atmungsaktive Membran sorgt für ein gutes Fußklima, während Recco-Reflektoren als zusätzlicher Sicherheitsaspekt eingebracht wurden. Für die Schnürung des Innenschuhs sind sechs Schlaufen angebracht, die man verwenden könnte. Ehrlicherweise habe ich das in den letzten zehn Jahren aber nie gemacht, da es mir keinen Vorteil verschafft.

Alternative Modelle von Tecnica

Neben dem hier vorgestellten Zero G Tour Pro bietet Tecnica noch folgende Modelle an:

  • Zero G Tour: ausgewogenes Basismodell der Serie; 4-Schnaller mit 110er Flex, günstigster Schuh der Serie, UVP € 570,-

  • Zero G Tour Scout: 4-Schnaller mit 120er Flex, Kombination aus Freerideschuh und Skitourenschuh, UVP € 670,-

  • Zero G Peak: superleichter (unter 1kg) 2-Schnaller mit 120er Flex, aufstiegsorientiert, UVP € 800,-

  • Zero G Peak Carbon: Variante des Peak mit Carbonschaft, superleichter (unter 1kg) 2-Schnaller mit 130er Flex, aufstiegsorientiert, UVP € 950,-

Die folgenden Modelle gibt es auch speziell für Frauen:

  • Zero G Tour W: ausgewogenes Basismodell, 4-Schnaller mit 105er Flex, UVP € 570,-

  • Zero G Tour Scout W: abfahrtsorientierter 4-Schnaller mit 115er Flex, UVP € 670,-

  • Zero G Peak W: aufstiegsorientierter 2-Schnaller mit 115er Flex, UVP € 800,-


Tester: Hannes Haberl, IVBV Berg- und Skiführer/bergsteigen.com



Kommentare

Neuer Kommentar
Zum Verfassen von Kommentaren bitte anmelden oder registrieren.
Nach oben