Nachdem sich meine Vortragsreihe im Spätherbst 2019 dem Ende zugeneigt hatte und ich am 30. November in Mals noch einen Vortragsabend gestalten durfte, fiel mir am nächsten Tag während der Heimfahrt eine erstaunlich steile Felswand auf. Dieselbe war mit einer auffallenden Eisstruktur überzogen. In diesem Moment war die Idee geboren, dort oben weitab von den bekannten Dolomitenwänden und Touren eine Erstbegehung zu versuchen. Hierauf machte ich ein Wandbild und vergrößerte die gedachte Linie am Bildschirm und konnte mir auf diese Weise gedanklich bereits eine gute Vorstellung der womöglichen Erstbegehung machen.Kurz darauf kontaktierte ich Daniel Tavernini. Er ist selbst Bergführer, ein guter Freund und verlässlicher Partner in anspruchsvollem Gelände. Wir konnten gemeinsam schon etliche spannende Projekte in Südtirol und in China realisieren. Daniel wusste, dass viel weiter rechts meiner gedachten Tour eine Felsroute erstbegangen wurde, die üblicherweise im Sommer geklettert wird. Dabei handelt es sich um eine Kletterei im sechsten Grad. Sonst konnte er mir vergewissern, dass die gesamte Wandflucht einschließlich Eis noch jungfräulich ist. Bemerkenswert dabei ist, dass Daniel sagte, er würde diese Wand und die Eisspur sogar von seinem Küchenfenster aus sehen. Die Frage, ob er mit mir mitkommen würde, um die Wand zu erkunden und die Erstbegehung zu versuchen, bejahte Daniel sowieso. Wir waren beide gleichermaßen begeistert von dieser Idee.
Wird es möglich sein, die Route im klassischen Stil zu erschließen?
Eine Woche später konnten wir nun das erste Mal in Richtung Wand stapfen. Unser Vorhaben war, uns in erster Linie einen Überblick zu verschaffen, Fels-und Eisbeschaffenheit zu prüfen und eventuell einige Seillängen einzurichten. Es sollte eine bemerkenswerte Kletterei werden, da der Fels sehr gewöhnunsbedürftig war und die Eisspur dünner war, als vorher angenommen. Am Beginn der Route standen jedenfalls viel mehr Fragezeichen als Ausrufezeichen. Wie verlässlich gestaltet sich die Absicherung? Wird es möglich sein, die Route im klassischen Stil zu erschließen? Gibt es eine offensichtlich logische Linie? Um all diese Fragen beantworten zu können, mussten wir natürlich die ersten Meter klettern - an unserer großen Motivation und Begeisterung sollte das Vorhaben nicht scheitern. Wir stiegen nach knapp 2 1/2 Stunden Zustieg in die Wand ein. Diesen bewältigten wir zunächst entlang eines Wirtschaftsweges und nachher über einen steilen Hang. Die eindrucksvolle Umgebung und die steil hochragende Marmorwand entschädigten für diesen etwas langen und mühevollen Zustieg. Die ersten Meter waren zunächst reine Genusskletterei im vierten bis fünften Mixed Grad. Diese erste Seillänge ließ sich noch verhältnismäßig gut und verlässlich mit Friends absichern. Entlang ausgeprägter Risse ging es zunächst problemlos höher. Nachher wurde es um einiges steiler und demnach erhöhten sich auch die Schwierigkeiten. Nichtsdestotrotz gaben feine Felsrisse und ein steile Rampe den logischen Verlauf der Kletterei vor. Nach zwei Seillängen, so war unser Plan, wollten wir ursprünglich ins Eis übersteigen und die Eisformation hoch steigen. Dies schien allerdings nicht möglich, da die Eisauflage so dünn war, dass man sich mit Eisschrauben dort nie absichern hätte können. Zusätzlich steilte sich diese dünne Eisspur mit jedem weiteren Meter auf. Je länger ich entlang der Eisspur nach einer möglichen kletterbaren Linie Ausschau hielt, umso unmöglicher erschien mir es, dort eine zu verantwortende Route zu klettern.
Plan B
Also musste ein Plan B her. D.h. eine mögliche Linie, die uns womöglich in einer Rechtsschleife um die dünne Eisspur lotsen könnte. Wir entschieden uns für diese Variante. Zwei Risssysteme, wobei eines zunächst rechts und ein zweites weiter oben wieder nach links zu verlaufen schien, bestärkten uns in unserer Entscheidung. Nach knappen 15 bis 20 Meter richtete ich einen Standplatz ein. Die vierte Seillänge sollte uns nun über einen Pfeiler und folgend über ein Band zu einen möglichen Standplatz führen, den wir beim Betrachten des Wandfotos geplant gehabt hätten. Da wir nun vermehrt im Fels kletterten und dort Sicherungen anbringen mussten, hatten wir schlussendlich zu wenig mobile Sicherungen am Gurt. Am gedachten Standplatz angekommen, konnten wir tatsächlich einen guten Standplatz mit drei Haken bauen. Nach dieser insbesondere moralisch anstrengenden Seillänge entschieden wir uns für einen Rückzug. Es war bereits spät geworden und wir wollten an einem zweiten Tag wiederkommen und die Vollendung der Erstbegehung mit neuen Kräften angehen.
Tag zwei in der Route
So fuhr ich am 4.Jänner wieder nach Schlanders. Am zweiten Tag in der Route erreichten wir unseren Umkehrpunkt ziemlich rasch. Die Begeisterung war umso größer, als wir zum ersten Mal ins Eis steigen konnten. Zunächst dachten wir, es würde sich sicherlich um gutes stabiles Eis handeln. Doch wir sollten uns täuschen. Euphorie und die Vorfreude endlich gutes Eis zu beklettern, machten Ernüchterung und großen Respekt vor der schlechten Eisbeschaffenheit Platz. Wie bereits vorher im Fels gestaltete sich die Absicherung in der ersten reinen Eislänge als überaus delikat. Das spröde und krustige Eis verlangte jedenfalls sehr gefühlvolles Belasten der Eisgeräte und Steigeisen. Eisschrauben hätten in diesem Eis zu einer sehr großen Wahrscheinlichkeit einen Sturz nicht halten können. Nach einem Dutzend sehr heiklen Metern konnte ich endlich einen guten Haken schlagen und nebenbei einen verlässlich wirkenden Friend legen. Das Eis wollte allerdings nicht stabiler werden und wir sollten auch ein weiteres Mal enttäuscht werden. Der mögliche Standplatz entpuppte sich als zu schlecht und zu riskant. Nun musste ich der dünnen unzuverlässigen Eisspur bis zu ihrem Ende folgen. Dort angelangt erwartete mich nun die Schlüsselstelle.
Die entscheidenden Meter
Diese war eine steile Felspassage, die die Eisspur vom freihängen Eisvorhang trennte. Und genau dort konnte ich einen feinen Haarriss erkennen. Dieser ermöglichte das Versenken eines guten Felshakens. Diese entscheidenden Meter hatten es technisch und moralisch in sich. Als ich endlich die Eispickel ins Eis des Vorhanges schlagen konnte, realisierte ich sofort, dass dieser sehr gutes Eis gebildet hatte. Nach weiteren 15 sehr steilen Metern im Eis gelang es schlussendlich, den lang ersehnten sicheren Standplatz einzurichten. Dass es nebenbei noch saukalt und sehr windig war, hatten wir beinahe vergessen. Die Anspannung und der Ernst der Lage hatten dazu geführt. Die letzte Seillänge war dann schlussendlich reiner Eisklettergenuss. Voller Zufriedenheit und Erleichterung erreichten wir das Ende unserer Erstbegehung. Diese Route wird uns lange in Erinnerung bleiben. Die Freude darüber, gemeinsam dieses Abenteuer erlebt zu haben, wird uns lange im Gedächtnis bleiben. Eine Idee wurde zur Wirklichkeit. Einige Male schien das Vorhaben allerdings zu scheitern. Doch der Zusammenhalt, das gegenseitige Motivieren und das Ergänzen unserer jeweiligen persönlichen Stärken sollten die Vollendung dieser spannenden Erstbegehung möglich machen.
Routeninformationen
Route: „The White Edition“
Erstbegeher: Simon Gietl und Daniel Taverini
Erstbegehung: Januar 2020
Schwierigkeit: M7, WI5+ 6, (140m)
Absicherung: Die verwendeten 6 Standhaken und 3 Zwischenhaken wurden belassen, es wurden keine Bohrhaken verwendet.
2 Serien Friends + Eisausrüstung empfehlenswert.
Weitere Infos zur Tour findet ihr hier
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