THE CLASSICS – FINE JADE THE CLASSICS – FINE JADE
22 Juli 2016

THE CLASSICS – FINE JADE

Einige der eindrucksvollsten Risslinien auf der Welt findet der Rissliebhaber im Süden des US-Bundesstaates Utah – "Fine Jade" ist einer der ganz großen Klassiker in "God’s own country"!

 

Risse spalten nicht nur Felswände, sondern auch die gesamte Klettergemeinde. In solche, die das Rissklettern lieben und solche, die Rissklettern hassen. Es nur ein bisschen zu mögen – das geht nicht! Einige der eindrucksvollsten Risslinien auf der Welt findet der Rissliebhaber im Süden des US-Bundesstaates Utah – "Fine Jade" ist einer der ganz großen Klassiker in "God’s own country"!

Castle Valley und seine Türme

Das geflügelte Wort “Ein Riss ist ein einziger Griff und Tritt von unten bis oben” wird gemeinhin dem Elbsandsteinklettern zugeschrieben – schliesslich gilt der sächsische Sandstein als Mekka des Risskletterns in Europa. Doch das wahre und einzige Paradies der Risse befindet sich in der Nähe einer amerikanischen Kleinstadt namens Moab im Süden von Utah. Hier, in einer wüstenähnlichen Hochebene, hat der Colorado River in Jahrmillionen tiefe Canyons in den Sandstein gegraben. Wind und Wetter arbeiteten über die Zeiten bizarre Türme und Felsformationen heraus, die dem Betrachter in ihrer Einzigartigkeit den Atem stocken lassen. Wie ein gewaltiger Schiffsbug ragt The Rectory, ein über 100 Meter hohes, langgestrecktes Felsriff, aus der Ebene des Castle Valley auf, eingerahmt vom schlanken Turm des Castleton Tower im Süden und der Formation “The Priest” im Norden.

Der Castleton Tower zählt zu den bekanntesten Gipfeln in den gesamten USA und war einer der ersten Wüstentürme, der von Kletterern bestiegen wurde. Am 16. September 1961 standen Layton Kor, ein Pionier des Kletterns in Utah, und Huntly Ingalls als Erste auf dem Castleton Tower, die Route der Erstbesteiger, die “Kor/Ingalls”, ist heute einer der ganz grossen Klassiker und wird mit 5.9 bewertet. Ein Jahr später wurde auch “The Priest”, der The Rectory nördlich vorgelagerte Felsturm, von Layton Kor erstmals bestiegen – diesmal mit Fred Beckey, einem der ganz Grossen des amerikanischen Bergsteigens (die Liste seiner Erstbegehungen würde für zwei Bergsteigerleben reichen, und mit 93 klettert er immer noch…).

Die Traumlinie


Ein schmaler Pfad führt vom Parkplatz an der Castle Valley Road durch den Wüstenschutt in Richtung der gewaltigen Felsformationen, die aus der Öde der Hochebene in den tiefblauen Wüstenhimmel ragen. Mit jedem Schritt wird die Linie, die die schmale Südwand des gewaltigen Schiffsbugs namens The Rectory durchzieht, deutlicher sichtbar und markanter, und wenn man nach einer Stunde unter dem Einstieg steht, verschlägt es einem schier den Atem: Wie von einem Titanenmesser geschlagen, durchschneidet ein Riss die haltlose Wand – die einzige und logische Linie. Nicht umsonst ist “Fine Jade” der Mega-Klassiker unter den zahllosen Kletterrouten im Sandstein von Utah. Erst im Jahr 1984 wurde diese einzigartige Linie von Chip Chase und Pat Ellingwood erstmals geklettert – und schon nach wenigen Jahren stand “Fine Jade” in der Liste der besten Klettereien Amerikas.

Kein Wunder also, dass Steph Davis, die im benachbarten Moab lebt, Caroline North, ihrem deutschen Gast aus dem Mammut Pro Team, unbedingt “Fine Jade” zeigen möchte. An einem sonnigen aber eiskalten Februarmorgen brechen die beiden erklärten Fans des Risskletterns vom Parkplatz auf, um mit voll bepackten Rucksäcken den einstündigen Fussmarsch zum Fuss von The Rectory zu bewältigen. Caro ist das erste Mal in der Wüste von Utah, und es verschlägt ihr fast den Atem: “‘Fine Jade’ ist eine wahnsinnig schöne Linie – geniale Risse, die eine vertikale Wand durchschneiden! Ist doch klar, dass man so etwas unbedingt klettern möchte!” So erinnert sie sich später. Und Steph ergänzt: “‘Fine Jade’ ist eine Route, die man einfach lieben muss! Es ist eine unvergleichlich ästhetische Linie.”

Caro steigt die erste Seillänge vor – eine kraftraubende Verschneidung, die leicht abdrängt, dann ein Handriss, der immer schmaler wird und als Fingerriss (5.10+) zum ersten Stand führt. Steph, die “Hausmeisterin”, klettert die zweite und dritte Seillänge als eine Länge – gleich die Schlüsselstelle (5.11a), ein schmaler Fingerriss, dann leichteres Gelände (5.9) unter die Gipfelwand, die wieder an Caro geht. Die beiden Frauen entscheiden sich für die direkte Ausstiegsvariante (5.11a); der Originalausstieg quert nach links in einen kurzen »offwidth« (Schulterriss, 5.9+). Einige Bohrhaken sichern die technisch anspruchsvolle Wandkletterei ab, wobei Caro später sagt: “Vor allem ist die Wandkletterei moralisch anspruchsvoll, denn die Bohrhaken sind so weit auseinander, dass man an einigen Stellen im ‘Fall eines Falles’ unten auf dem Band einschlagen würde.” Und als die beiden Frauen dann auf dem weiten Gipfelplateau stehen, sind sie sich einig, eine exzellente Fünf-Sterne-Route geklettert zu haben…

Was ist “Trad”-Klettern?


Ein kurzer Exkurs in die Historie des amerikanischen Kletterns sei erlaubt. Als in den 1950er- und 1960-Jahren die ersten Klettertouren im Yosemite Valley und in Colorado eröffnet wurden, so fand das vor allem in künstlicher (hakentechnischer) Kletterei statt. Da man aber keine Spuren in der Natur hinterlassen wollte, wurden bei jeder Begehung einer Route sämtliche Haken wieder entfernt. Das führte dazu, dass der Fels immer mehr zerstört wurde und immer grössere Hakenlöcher das Gestein “zierten”.

So entstand Anfang der 1970er-Jahre im Yosemite Valley der Gedanke des “clean climbing” ohne Hammer und Haken mit Absicherung ausschliesslich durch Klemmkeile – einer der ersten, der das praktizierte und dem “free climbing” zu seinem späteren Siegeszug verhalf, war Jim “Captain” Bridwell, eine der schillerndsten Figuren des amerikanischen Kletterns, der neben den damals schwierigsten Freiklettereien auch einige der extremen Big-Wall-Routen am El Capitan eröffnete und dem unter anderem auch die erste vollständige Begehung der Maestri-Route am Cerro Torre gelang (der Italiener Cesare Maestri kletterte nur bis eine Seillänge unter den Gipfeleispilz). Als schliesslich Ray Jardine (Erstbegeher einiger der schwierigsten Freikletterrouten in den 1970er-Jahren im Yosemite Valley, u. a. “Pheonix”, 5.13b) die geniale Idee des “Kniehebelprinzips” in Form der ersten Friends entwickelte, liessen sich Risse mit deutlich weniger Aufwand absichern.

Ohne Friends wäre das Klettern in der Wüste von Moab heute fast undenkbar. Die meist parallelen Risse sind mit gängigen Klemmkeilen kaum abzusichern, Friends dagegen werden von den Rissen buchstäblich “gefressen”. Und hier liegt eine weitere Herausforderung des Risskletterns: Man kann einen Riss mit Friends “vollpflastern”, wird aber bald merken, dass dabei die Kraftreserven schnell aufgebraucht sind – zumal auch in der Wüste ein Durchstieg nur “rotpunkt” (ohne Rasten an Sicherungspunkten) zählt. Wer unter einer 40-Meter-Rissseillänge steht und als einzige “Insel” im Ozean aus vertikalem Sandstein nur den nächsten Stand sieht, muss sich eine genaue Taktik zurechtlegen – wann wo welchen Friend legen – um nicht irgendwo ganz schnell zu “verhungern”. Denn es gibt keinen nächsten Bohrhaken als Rettungsinsel…

Was ist ein Klassiker?


Lassen wir doch einfach mal Wikipedia, unser allseits beliebtes digitales Nachschlagewerk, zu Wort kommen: “Als ‘klassisch’ im allgemeinen sprachlichen Sinne wird etwas bezeichnet, das typische Merkmale in einer als allgemeingültig akzeptierten Reinform in sich vereint und mithin als formvollendet und harmonisch gilt. Das Klassische bildet somit den zeitlosen Kontrapunkt zur zeitabhängigen Mode. Jay Smith aus Moab, ein Urgestein des Sandsteinkletterns in Utah, bringt es ganz anders auf den Punkt: “Für mich muss ein Klassiker vom ersten bis zum letzten Zug Spass machen. Und bei ‘Fine Jade’ macht jede Seillänge Spass, bis zum letzten ‘move’ aufs Gipfelplateau. Deshalb ist ‘Fine Jade’ für mich eine der besten Routen in Utah.” Und Caro North ergänzt: “Solch ein Fels und solche Risse lassen das Herz definitiv höher schlagen. Vom Finger- bis zum weiten Handriss ist hier alles geboten, was die Tour absolut interessant macht.”

Was ist es nun: Die “allgemeingültig akzeptierte Reinform” oder etwas, das “das Herz definitiv höher schlagen lässt”? Bei “Fine Jade” treffen beide Definitionen zu – die akademische wie auch die emotionale! Diese Route ist tatsächlich die “Reinform” einer Risslinie; und wer sich der Südwand von The Rectory nähert, dem schlägt das Herz wirklich höher. “Fine Jade” ist die Symbiose aus physischer und mentaler Herausforderung, Klettern als Vereinigung von Körper und Geist…

Sitting on top of the world…


Gerne wird das Klischee vom “Marlboro”-Land zitiert, wenn es um die Landschaft der Wüste um Moab geht – schliesslich hat sich die weltbekannte Zigarettenwerbung über Jahrzehnte in den Köpfen eingebrannt. Und in der Tat war die Gegend Drehort für zahlreiche Western, die zu Klassikern (hört, hört…) wurden. Aber es ist viel mehr, was “The Desert” ausmacht. Der Fotograf Rainer Eder: “Man kann sich nicht satt sehen! Die Landschaft ist gewaltig, eindrücklich schön. Für einen Fotografen aus Europa ist das etwas ganz Besonderes – diese zahlreichen Lichtwechsel, diese tiefen Farben und diese schier unendliche Weite…”

Wenn am Nachmittag Castleton Tower, The Priest und The Rectory im Schräglicht ihre langen Schatten über das Colorado Plateau werfen, so möchte man am liebsten kurz die Zeit anhalten – “Augenblick verweile, Du bist so schön…” (‘Faust’, Goethe). Klettern in der Wüste von Moab ist ein ganz besonderes Erlebnis, das nicht nur von der Kletterei an sich, sondern vor allem vom Ambiente geprägt ist. Steph Davis, die seit vielen Jahren in Moab lebt, beschreibt es so: “Es sind vor allem die Schönheit der Landschaft und die klaren Strukturen der Türme – und ganz besonders die Tatsache, dass man auf einem Gipfel steht! Layton Kor hat einmal gesagt ‘Ein Gipfel ist mehr wert als drei Wände’. Das Klettern ist nur ein Teil des Gesamterlebnisses. Es ist vielmehr die Erfahrung, zusammen mit einem Freund auf einen Gipfel zu klettern, oben stehen und diesen überwältigenden Blick über die Türme rundum, über die Berge hinweg bis zum Horizont einzuatmen…” Ganz oben stehen, hoch über dem alltäglichen Talgeruch, endlich frei atmen! Für dieses Gefühl steigen wir auf kleine und große Türme – “Sitting on Top of the World” (Walter Vinson, 1901–1975).

Region:Castle Valley, Moab | Utah, USA
Erstbegehung:1984: Chip Chase und Pat Ellingwood
Wiederholung:März 2016: Caro North, Steph Davis
Felstyp:Sandstein
Art der Kletterei:Start mit kurzem, leicht überhängendem “offwidth”, danach Hand- und Fingerrisse.
Schwierigkeitsgrad:5.10, 5.11a, 5.9, 5.11a (oder 5.9+, Originalausstieg)
Länge:ca. 100 m

Autor: Andreas Kubin
Fotograf: Rainer Eder / Archiv Steph Davis
Videograf: Nicolas Falquet
Drohnenpilot: Marc Subirana



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