Wie jeder Winter brachte auch der letzte ausreichend Zeit, in der ich mehr zuhause war, das Jahr Revue passieren ließ und mir neue Projekte suchte. Dabei darf natürlich der Blick in den Gesäuseführer - in der neuen Auflage ein ordentlicher Wälzer - nicht fehlen. Ich blättere manchmal völlig ziellos durch das Buch und schaue mir diese wunderschönen Wände an. Da soll es schon einmal vorkommen, dass ich Wandpartien entdecke, die noch kein dichtes Routennetz aufweisen und genau dort sehe ich genauer hin, um etwaige Strukturen erkennen zu können, die man zur Fortbewegung nutzen könnte. So war es auch in der Hochtor-Nordwand, als ich verwundert in das Buch blickte, da in Falllinie des Appellplatzes keine Route nach oben eingezeichnet war, obwohl Strukturen zu erkennen waren. Nachdem ich keine halben Sachen mache, suchte ich nach einem Weg um möglichst direkt und eigenständig vom Appellplatz zum Wandfuß zu gelangen. Und siehe da... Es gäbe eine Möglichkeit.
Als ich im darauffolgenden Juni mit einer Freundin die Rosskuppenkante kletterte, schweifte mein Blick immer wieder in die Hochtor Nordwand ab und ich sah mir die Linie, die ich mir imaginär in die Wandbilder gezeichnet hatte, aus der Nähe an. Sieht über weite Strecken nicht senkrecht aus und der Fels gut. Ich hatte bereits in der Südostwand des Großen Ödsteins mit der zweiten Heimat eine Route free solo erstbegangen. Aus diesem Grund kam mir die Idee, ob diese Linie nicht ebenfalls in diesem Stil machbar sein sollte. Eigentlich wollte ich zwei Wochen später den Versuch wagen, doch zwang mich eine Coronainfektion in die Knie.
Auskuriert, gut trainiert und mit viel Selbstvertrauen nach großen Touren im Ecrins und Mont Blanc Massiv - unter anderem hatte ich die Nordwand der Aiguille du Midi über den Frendopfeiler (1200m, D+) free solo in vier Stunden erstiegen, oder die Allain-Leininger (900m, TD+) in der Petit Dru Nordwand gemeistert - fahre ich Anfang September morgens ins Gesäuse, um meinen Plan von Juni in die Tat umzusetzen. Als ich von Admont kommend die Nordwände des Gesäuses und vor allem jene des Hochtors erblicke, bleibe ich an einer Bushaltestelle stehen und muss ordentlich schlucken. Was? Durch diese Wand will ich ohne Seil? Sieht ganz schön hoch, heftig und steil aus! Wie soll das gehen??? Das geht nicht! Da komm ich nicht rauf! Was hab ich mir nur dabei gedacht? Ok, warte... Nicht gleich das Projekt bei diesem erschreckenden Anblick verwerfen. Ich kann ja zum Parkplatz fahren und zusteigen - mal sehen, wie die Welt von dort aussieht.
Ich statte der Haindlkarhütte noch einen schnellen Besuch ab und bringe den restlichen Zustieg rasch hinter mich. Am Einstieg angekommen, überwiegt schon die Zuversicht. Der Vorbau sieht noch mit Zustiegschuhen bewältigbar aus. Demnach ziehe ich meine Kletterschuhe erst vor dem Steilaufschwung unter dem Appellplatz an. Hier wartet eine kurze, plattige Stelle, eine anschließende Rampe führt zu einem ausgesetzten, aber nicht allzu schweren Kamin und schon stehe ich am untersten Ende des Appellplatzes. Die Kletterschuhe kommen wieder in den Rucksack und weiter geht's - über den Appellplatz entlang der Jahn/Zimmer bis zum Beginn des oberen Teils.
Hier baut sich eine annähernd senkrechte Wand auf. Der Fels sieht bestens aus - sehr strukturiert, zerfressen und vor allem fest. Auf geht's in den oberen Teil. Die Kletterei macht unglaublich viel Spaß - Henkel, senkrechtes Gelände, seilfrei. Nach dieser ersten Wandpassage erreiche ich einen kleinen Absatz und folge wie geplant der liegenden, nach links ziehenden Rissverschneidung. An einer Engstelle finde ich einen alten Normalhaken - demzufolge dürfte sich hierher schon mal jemand verirrt haben. Kurz danach ein kleines Podest. Hier klettere ich nicht die logische, leichte Linie nach links, sondern gerade empor in traumhaften Platten à la Planspitze Nordwestwand. Bester wasserzerfressener Fels bringt mich zum Schmunzeln und zum nächsten Steilaufschwung, der mit einem langen Schuppenriss auf der rechten Seite gut erkletterbar ist.
Nach einer kurzen, flachen Passage stehe ich unter der letzten, steilen Wand. Sie sieht sehr gut strukturiert aus, jedoch wirkt die Felsqualität nicht mehr so vertrauenswürdig. Ich klettere also sehr vorsichtig dieses senkrechte Gelände und versuche die Griffe mit möglichst wenig Gewicht zu belasten. Einen Vorteil hat der blockige, strukturierte Fels: Es gibt ausreichend Griffe, sodass der V. Grad meiner Meinung nach nicht überschritten wird. Eine leicht überhängende Blockschuppe lässt mein Herz nochmals kurz höher schlagen. Sie wird doch nicht mit mir das Weite suchen? Es bleibt auch danach ordentlich steil, bevor ich die senkrechte Wand an einem kleinen Absatz nach links ums Eck verlasse. Hier werde ich von einem Mauerläufer empfangen. Er ist der einzige, den ich heute während dem Auf- und Abstieg wahrnehmen soll - ansonsten war es still - sehr still. Der Ausstieg befindet sich nur noch ca. zehn Meter über mir und ist leicht zu erreichen.
Als ich am Ausstieg ankomme, lasse ich dies dem Haindlkar mit einem Jubelschrei wissen und plötzlich kommt einer zurück. Die Pächter der Haindlkarhütte hatten meinen Aufstieg mit Spannung verfolgt und freuten sich mit mir über die geschaffte Erstbegehung. Vom Ausstieg aus erklimme ich noch schnell das Hochtor und steige dann wie geplant die Route Jahn/Zimmer (27SL, III+) ohne Routenkenntnis ab, um mit den Hüttenwirten noch auf den heutigen Tag anstoßen zu können. Ein nicht alltägliches Erlebnis für uns alle, das uns zum Lachen bringt und noch lange in Erinnerung bleiben wird.
Liebes Gesäuse. Es war mir eine Ehre.
07.09.2022
Mario Rohrhofer (Text und Fotos)
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