Aus den Geschichtsbüchern und der Nationalbibliothek
Wir schreiben das Jahr 1894. Kaiser Franz Joseph führt die Regierungsgeschäfte im österreichischen Reichsratsgebiet, welches rund 23 Millionen Einwohner aufweist und im Süden bis nach Dalmatien reicht. Die größte Männerstrafanstalt ist Stein mit 1.632 Sträflingen, gefolgt von Prag und Lemberg. Gemäß Statistiken aus der österreichischen Nationalbibliothek befinden sich 2.359 Insassinnen in Weiber-Strafanstalten und 663.173 Rindviecher auf den steirischen Weiden. Im Gerichtsbezirk Frohnleiten zeichnet ein Stier für 73 Kühe verantwortlich. Nahezu jedes fünfte neugeborene Kind kommt in der christlichen Realwelt als uneheliches Kind zur Welt. Mit der Inbetriebnahme der ersten "elektrischen Zentrale" in der Steyrergasse und 6.000 Glühlampen, folgt die steirische Landeshauptstadt Graz dem Beispiel der Reichshauptstadt Wien, und beginnt damit öffentliche Plätze und Straßen zu beleuchten. Die Grazer Schlossbergbahn nimmt ebenso im Jahr 1894 ihren Betrieb auf. Der Zugang zu Informationen aller Art, zum Beispiel zu Informationen über das Bergsteigen und den Alpinismus ist sehr beengt und eher in akademischen Kreisen zu finden.
Dolezalek & Fontane
Zwei junge Burschen sind zu Fuß unterwegs, um von Frohnleiten aus die rund 10 Kilometer entfernte sogenannte „Drachenhöhle“ oberhalb von Mixnitz zu besichtigen. Es sind dies die beiden 20-jährigen Frohnleitner Studenten Eugen Fontane und Max Dolezalek. Die Höhle gefällt ihnen gut, aber bereits der spannende Aufstieg zum Höhlenportal durch den engen steilen Graben, welcher teilweise versichert ist, weckt in ihnen den Entdeckergeist der Jugend. Bereits am nächsten Tag gehen sie erneut von ihren Elternhäusern in Frohnleiten los um diesmal den Gipfel des Röthelsteins, an dessen Wandfuß sich eben diese Drachenhöhle befindet, über den damals üblichen Steig zu besteigen.
Eines Tages später beschließen die beiden einen anderen Weg dort hinauf zu erkunden. Einen noch spannenderen. Einen anspruchsvollen. Einen Kletterweg. Die jungen Fontane und Dolezalek klettern einfach drauf los. Hinein in die Wand. Links der Drachenhöhle beginnt ihr kleines Abenteuer und sie versuchen ihr Glück und folgen zunächst der logischen Fortsetzung des engen Aufstiegsgrabens. Das ist bereits richtiges Klettern, denn sie müssen sich oftmals mit beiden Armen am Fels festhalten. Sie erkunden das Gelände an mehreren Tagen. Alles, was sie raufklettern, müssen sie auch wieder abklettern. Von Seilen hatten sie schon gehört und gelesen, und so organisieren sich die zwei, unter Vorspiegelung nicht ganz richtiger Tatsachen, einen alten ausrangierten Hanfstrick beim Korbmacher in Frohnleiten. Ausgerüstet mit einem Seil sehen sich die beiden schon als richtige Bergsteiger und von Versuch zu Versuch gelingt es ihnen immer weiter in die Wand vorzudringen. Die mögliche Durchstiegslinie hatten sie vom Tal aus oftmals gemeinsam diskutiert, doch aus der Nähe präsentiert sich die Wand dann meist ganz anders als erwartet oder befürchtet. Schließlich ist es an einem lauen Sommerabend so weit. Sie haben die Wand tatsächlich durchstiegen und stehen glücklich am höchsten Punkt des Röthelsteins über dem Murtal. Rund 300 Höhenmeter oberhalb des Portales der Drachenhöhle.
Ob es so, oder so ähnlich wie soeben geschildert wirklich war, dass weiß man mit absoluter Sicherheit nicht so ganz genau. Was man aber weiß, ist dass dieser Kletterweg der allererste im gesamten Grazer Bergland war. Zu Ehren von Eugen Fontane erhielt er den Namen „Fontanesteig“. Noch im selben Jahr gelang beiden ein neuer Nordanstieg auf den Kreuzkofel in den Gailtaler Alpen. Im Jahr 1895 eröffneten sie ebenfalls in den Gailtaler Alpen die „Westrampe“ am Roten Turm, die Nordwestkante am Simonskopf sowie den Westweg auf der Großen Sandspitze. Im Laufe ihres Lebens reiften die beiden zu richtig guten Bergsteigern heran.
Diese beiden waren es also, welche im Jahr 1894 mit dem „Fontanesteig“ die erste Klettertour im Grazer Bergland eröffneten. Auch die Bezeichnung des Ratengrates im Grazer Bergland geht auf einen der beiden, nämlich auf Max Dolezalek zurück, welcher als Alleingänger im Jahr 1902 den damals als unteren Südwestgrat geltenden Teil des Röthelsteines in mehreren Etappen- auf Raten- zu Leibe gerückt ist. Heute wie damals zählt dieser „Ratengrat“ zu den beliebtesten Felsen des gesamten Grazer Berglandes, welches mittlerweile mit rund 1.300 Kletterrouten zu einem der größten und beliebtesten Klettergebiete Österreichs angewachsen ist.
Wer suchet, der muss nicht zwingend richtig finden!
Frühling 2023. Bewaffnet mit der Verbalbeschreibung des „Fontanesteiges“ und einem Wandfoto mit eingetragenem Routenverlauf aus den Kletterführern des leider bereits verstorbenen Kletterpioniers Franz Horich, versuchen Rüdiger Hohensinner und ich diesen geschichtsträchtigen Anstieg zu wiederholen. Am Ausstieg war uns klar, dass wir sowohl im Einstiegsbereich als auch im Wandbereich oberhalb der sog. „Schrempfrinne“ nicht die Ideallösung gefunden hatten. Aber wir waren uns auch einig, dass wir gemeinsam diesen Anstieg revitalisieren wollten. Dieses Stück Alpingeschichte dürfte nicht verloren gehen. Und als Zeichen unserer nach wie vor großen Liebe zu unserer Bergheimat wollten wir diesen „Fontanesteig“ wiederbeleben und dem Grazer Bergland somit etwas zurückgeben. Wir würden mit Sorgfalt und Demut ans Werk gehen und uns vor dem Beginn der Arbeiten alle alten verfügbaren Führerwerke organisieren, um eben diesen Weg möglichst auf der Linie der Erstbegeher neu einzurichten. Was wir aber bei unserem ersten Besuch dort in den Südwestwänden des Röthelsteins im Frühling sahen, waren überraschenderweise viele schöne neue Bohrhaken und großteils bereits gut geputzte Felsen im Nahbereich des alten Klassikers. Hier hatte also jemand eine neue Route in Arbeit. Lediglich die Kenntnis darüber, wer dort was machte, fehlte uns. Monate später wurde das Geheimnis gelüftet. Im Jahr 2022 war dort der „Rote Drache, 6-, 13 SL“ entstanden und bis zum Sommer 2023 verbesserten die Erstbegeher stets die dortige Linie, bis sie diese eben der Allgemeinheit zur Verfügung stellten und entsprechend veröffentlichten. Natürlich wiederholten auch wir beide diese Route alsbald. Einerseits wegen der gegebenen Neugier über dieses Werk, andererseits natürlich wegen der gebotenen Vorsicht, denn irgendwie wollten wir bei der Sanierung des „Fontanesteiges“ nicht in Konfliktsituationen kommen. Freundlich fragte Rüdiger die „Fontane-Anrainer“ ob es denn genehmigt sei, den einen oder anderen Haken, sowie einen ihrer Standplätze ihrer Neutour für unser Vorhaben zu benutzen, denn bereits bei unserem ersten Besuch war uns klar, dass die neue Linie den Fontanesteig mehrfach kreuzte. Gerne stimmten die Erstbegeher des „Roten Drachen“ diesem Plan zu und somit lag es eigentlich nur noch an uns, den Plan in die Tat umzusetzen.
Der Fontanesteig findet seine erste Erwähnung und Beschreibung im Wagner Gebietsführer über die Hochlantschregion aus dem Jahr 1905. Alle folgenden Beschreibungen lasen sich anders, was auf geänderte Linienführung und oder falsches Abschreiben aus der Vorgängerliteratur schließen ließ. Wir hatten uns mittlerweile alle Führer von 1905 bis 2021 besorgt und konnten die jeweiligen Textpassagen schon auswendig. Wenn man nacheinander die Texte zu ein und derselben Route- also dem Fontanesteig- aus dem Wagnerführer von 1905, dem Klasingführer aus dem Jahr 1928, dem Bergholdführer von 1967 und den Horichführern von 1978 und 1991 las, so hatte man den Eindruck, dass es sich um zumindest drei völlig verschiedene Anstiege handeln musste. Wir waren richtig neugierig und gespannt darauf, ob wir die eine oder andere Originalpassage am Fels finden könnten, welche zu den Verbalbeschreibungen des Führers aus dem Jahr 1905 passen würde.
Auf auf zum fröhlichen Geschichtsunterricht!
Wie allwöchentlich trafen sich Rüdiger & ich an einem schönen Freitag um 13 Uhr in Mixnitz zum Klettern. Ein Ritual, welches unausgesprochen Gültigkeit hat. Ein Ritual welches niemals eine Neubestätigung braucht, sondern lediglich im Falle einer Verhinderung eine Absage. Schwerbepackt zogen wir los, hinauf zur Drachenhöhle. Zum normalen Kletterequipment gesellten sich eine Bohrmaschine mit drei Akkus, 50 Edelstahlbohrhaken, 25 rote Seilstücke, mit welchen wir unsere Standplätze redundant ausrüsteten oder diese eben für die eine oder andere Sanduhr nutzen würden. Dazu kamen zwei Putzpickel und zwei Hämmer und natürlich die erforderlichen 17er Schlüssel sowie ein sauber vorbereitetes, 15 Meter langes Einfachseilstück.
„Mein Rucksack ist sicher wieder schwerer als deiner, Peter!“, sprach Rüdiger. „Lieber Rüdiger, ab jetzt bist du mein werter Freund Fontane. Eugen Fontane wohlgemerkt. Und ich bin für dich Max. Max Dolezalek. Später werde ich mal Akademiker.“, entgegnete ich.
Und so wurden aus Rüdiger und mir eben Fontane und Dolezalek. Nach einem rund einstündigen schweißtreibendem Zustieg nahmen wir unsere schweren Rucksäcke ab und rasteten unterhalb des riesigen Portales der Drachenhöhle. „Sag Fontane, sind wir blöd oder nur dumm? Wir werden eine Route einbohren, revitalisieren und putzen, welche wir vor ein paar Monaten rasch unangeseilt mit Turnschuhen hochgeklettert sind. Warum nur macht man sowas?“
„Ach werter Dolezalek, wir sind nicht dumm, sondern nur verliebt. Verliebt in unsere Bergheimat. Darum machen wir das. Hier hat vor rund 130 Jahren das Klettern im Grazer Bergland begonnen. Diese Geschichte darf nicht vergessen werden. Um sie wieder ans Licht zu bringen, darum machen wir das werter Max!“
Den richtigen Routenbeginn hatten wir bei unserem ersten Besuch verfehlt. Heute sollte aber alles passen. Geschichtsverfälschung sollte uns nicht passieren. Und so zitieren wir abwechselnd aus den unterschiedlichen Führern. Horich beschreibt den Einstieg mit 30 m links der Drachenhöhle und zu Beginn ginge es durch eine enge Rinne. Doch zwischen Horichs Beschreibung aus 1991 und der ersten Wagner Erwähnung von 1905 verging ja fast ein ganzes Jahrhundert. Wir waren uns einig: die älteste Führerliteratur würde der Master sein. Die folgenden sollten uns zusätzlich, wenn möglich und nötig bei der Wegfindung helfen. Und so konzentrierten wir uns auf den ersten Teil der 1905er Literatur, welche sich im Jahr 2023 unglaublich schön liest. Diese alten Verbalbeschreibungen sind es wert, so wie sie waren, hier im Original wiedergegeben zu werden. Die folgenden Textzitate stammen, falls nicht anders gekennzeichnet, alle aus dem Jahr 1905.
Wer suchet, soll diesmal richtig finden!
“Der Fontaneweg am Rötelstein, wie gesagt ein Kletterweg, der nur ganz erprobten, schwindelfreien Touristen anzuraten ist, zweigt auch von der Drachenhöhle nördlich, also in entgegengesetzter Richtung wie der gewöhnliche Weg, ab. Er ist markiert, während der gewöhnliche vorhin beschriebene Aufstieg nicht markiert ist, auf welchen Umstand der Verfasser besonders nachdrücklich hinweist. Schon das erste Stück, die obere Fortsetzung der Steilschlucht, durch die wir auf Steinstufen und Leitern zur Drachenhöhle gekommen sind, ist nicht eben leicht. Auf unverlässlichen Rasenpäcken und griffarmen Fels klettert man ungefähr 5 Meter gerade aufwärts. Indes kann ein Loslösen von Rasenschöpfen oder das Ausbrechen eines Griffes der geringen Höhe wegen noch nicht von üblen Folgen begleitet sein. Oberhalb dieser Stelle folgen weniger geneigte rasige Felsschroffen, im Frühjahr voll der herrlichen Aurikeln. Über dieselben geht es erst gerade aufwärts, dann rechts hinüber zu einem Rasenplatz vor einer Felswand. Eine von letzterer abgetrennte Felsplatte bildet mit der Wand einen höchst einladenden senkrechten Kamin, in welchem man jedoch nichts zu suchen hat, obschon eine Marke dort angebracht ist. Der Name "Oha Kamin", der daneben steht, beweist, dass es sich nur um einen neckischen Kletterscherz handelt.”
Franz Horich beschreibt den unteren Wegteil etwas anders. Rund 30m links der Drachenhöhle sollte es zu Beginn durch eine enge Rinne gehen. Noch bevor wir den ersten Bohrhaken setzen, wollen wir uns vergewissern, ob wir auch den richtigen Weg finden. Das wir keine Markierung mehr finden werden ist uns klar, doch den „Oha- Kamin“, den müssten wir als solchen erkennen und dass Aurikeln heutzutage eher als Petergstamm firmieren, ist uns bekannt. Wir klettern los. Hintereinander. Unangeseilt. Nach etwa 60 Metern sind wir in einem üppig begrünten Schrofenkessel. Klar gehbar, auch vor über 100 Jahren. Doch wo nur ist der „Oha- Kamin“? Wir suchen felsauf und felsab und dann fällt es uns wie Schuppen von den Augen. Wir sind uns sicher ihn gefunden zu haben. Und auch den Weiterweg schauen wir uns vom „Oha- Kamin“ aus an.
„Man klettert vielmehr wieder links in der bisherigen Richtung gegen einen Wandabsatz, der nun im "Fichtenkamin" überwunden wird, so benannt vom Fichtenbäumchen, welches friedlich am Fuße desselben sprießt.“
Das kleine Fichtenbäumchen wird wohl bereits erwachsen geworden sein, falls es überhaupt noch da ist. Den logischen Fichtenkamin fanden wir tatsächlich, nur von einer Fichte war nichts mehr zu sehen. Nun stand für uns aber fest—wir haben den Originalweg gefunden. Rasch kletterten wir wieder ab zur Drachenhöhle. Dort seilten wir uns an und schulterten unsere Rucksäcke, um nun im Seilschaftsverbund mit der eigentlichen „Sanierungsarbeit“ zu beginnen. In jeder Seillänge wollten wir mindestens zwei Haken setzen. Einerseits um die Wegfindung zu erleichtern und andererseits, um eine möglichst gute Seilführung zu haben. Gezielt legen wir den Weg an den Fels, weg von den Schrofen um Steinschlag so gut es geht auszuschließen und wir putzen die Linie auch bereits recht eifrig. Der „Fichtenkamin“ gefällt uns ausgesprochen gut, aber noch mehr gefällt uns die Tatsache, dass Fontane & Dolezalek bereits vor 130 Jahren neckische Kletterscherze ausgeführt haben. Das passt auch zu Rüdiger und mir. Erst vor einem Jahr haben wir in unsere Neutour namens „Bummelzug“ an zwei schweren Passagen der Breiten Wand im Grazer Bergland Originaltafeln der Wiener Verkehrsbetriebe angebracht auf welchen stand „Bitte sich festzuhalten“. Quasi das postmoderne Pendant zum „Oha-Kamin“.
Weiter rauf gings, Seillänge für Seillänge und im gleichen Stil bohrten und putzten wir, bis uns eine ganz besondere Passage der Wand zu intensiven Arbeiten zwang. Die sogenannte „Schrempf Rinne“ wuchs erst viele Jahre nach der Erstbegehung des Fontanesteiges für eigentlich alle „Kenner“ zur Schlüsselstelle der Route heran, was aber Fontane und Dolezalek im 19. Jahrhundert wohl noch gar nicht so sahen. Die Rinne präsentierte sich im Jahr 2023 als unangenehm zugewachsen. Schon seit den 80er Jahren wurde dort immer wieder von Liebhabern dieses Wandteils ein Seilstück reingegeben, welches Begehungen erleichtern oder gar ermöglichen sollte. Uns war klar, diese Passage mussten wir auch im Jahr 2023 wieder so herrichten, dass es auch für jene Bergsteiger, welche die Route so gesichert in Erinnerung hatten, wieder möglich sein muss dort hochzukommen. Das dafür vorgesehene, 15 Meter lange Seilstück mit vielen Griffknoten, hatten wir zuhause vorbereitet. Sauber verankerten wir dieses nun im Rinnenbereich entsprechend dem Stand der Technik. Es verstand sich von selbst, dass wir die alten morschen, teilweise angeschnittenen Seilstücke allesamt in unsere Rucksäcke packten und daheim danach sauber entsorgten.
„In ähnlicher Weise wie früher geht es nun aufwärts gegen den letzten Gipfelaufsatz, der sich nun rechts jenseits eines tiefen Schluchteinrisses zeigt. Das obere Ende der Schlucht wird auf einem ziemlich schmalen Felsbande vorsichtig gequert und nun folgt der schwere Schlußkamin. Mit ziemlicher Anstrengung arbeitet man sich einige Meter darin hinauf, bis es in der bisherigen Richtung nicht mehr weiter geht und man rechts auf die Höhe der den Kamin dort begrenzenden Gratrippe hinauf muss.“
Mit ziemlicher Anstrengung sanierten Rüdiger und ich zunächst aber erstmal die Schrempfrinne und die nachfolgende Seillänge.
„Das Hinaufschwingen um eine Felsecke auf die Grathöhe, welche unmittelbar darunter 50 bis 60 Meter tief, fast senkrecht abstürzt, erfordert peinliche Vorsicht und Aufmerksamkeit und unbedingt den Gebrauch des Seils. Auf der Höhe der Gratrippe hat man gewonnen Spiel, denn über Gestrüppe und Rasen erreicht man bald darauf unschwer den Gipfel!“
Wunderschön geht es danach recht ausgesetzt hinab zum großen, breiten und nahezu 70m langem Schrofenband, über welches man auch heute noch ganz leicht den Gipfel erreichen kann. Tatsächlich hat man nach der Überstiegspassage zu diesem Band hin „Gewonnen Spiel!“ Nachdem wir an unserem Sanierfreitag da hoch oben über dem Murtal standen und „Gewonnen Spiel!“ jubelten, beschlossen wir kurzfristig anstelle des Gehgeländes der großen Schrofenrinne, direkt durch die über uns befindliche Wand zur „Bergsteigerrast“ zu klettern. Natürlich suchten wir die logischste und leichteste Möglichkeit, denn es sollte schwierigkeitsmäßig zum Originalanstieg passen und diesen für jene Bergsteiger etwas aufwerten, welche dort gerne im Seilschaftsverbund klettern. Es ist davon auszugehen, dass Fontane und Dolezalek nach der Passage „Gewonnen Spiel“ dem breiten Schrofenband hinauf bis zur sogenannten „Bergsteigerrast“ ursprünglich gefolgt sind und dort linkshaltend aus der Wand zum Gipfel gestiegen sind. Um auch hier seilgesichertes Klettern zu ermöglichen, haben wir, wie gewohnt natürlich auch hier nachträglich noch alle 30 bis 40 Meter redundante Standplätze eingerichtet.
Recherche und die Frage nach dem „Warum?“
In den Führerwerken der letzten 50 Jahre wurde der Fontaneweg kaum noch beschrieben. Doch es findet sich immer ausführlich die Beschreibung der „Alten Südwest“ (Erstbegehung datiert mit 1935 - von Finster und Maurer). Diesem Anstieg wird irrtümlich der Ausstieg zum Gipfel hin, ab der „Bergsteigerrast“ zugeschrieben. Eine Tatsache, die so nicht stimmen kann, denn im Klasingführer aus dem Jahr 1928 wird dieser Abschnitt bereits verbal exakt beschrieben, und zwar als oberer Teil des „Fontanesteiges“. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich dieser Abschnitt irgendwann zwischen 1894 und 1928 einfach etabliert hat. Diesen Abschnitt hat Tom Richter bereits vor rund 20 Jahren sauber saniert. Wir verbesserten dort nur punktuell die Absicherung entsprechend dem Zeitgeist und putzten ein wenig.
Und so findet man heute, im neuesten Topo der ältesten Route des Grazer Berglandes, ein Abbild der Klettergeschichte unserer Heimat. Einer Heimat in der sich Rüdiger & ich aufmachten um als Fontane & Dolezalek unterwegs zu sein. Die wenigen altehrwürdigen Normalhaken, welche wir vorfanden, haben wir allesamt belassen und mit kurzen roten Seilstückchen versehen. Sie mögen so erhalten bleiben, als kleine alpinhistorische Relikte. Besonders freute uns die Tatsache, dass wir bei einer späteren Putzbegehung direkt oberhalb des zweiten Standplatzes noch die ganz schwach erkennbaren Reste der Originalbeschriftung des „Oha Kamin“ entdecken konnten. Groß eingeritzt in den Felsen war ein Pfeil und darunter standen tatsächlich die Worte „OHA KAMIN“. Die Frage warum zwei Kletterer, die im neuen Jahrtausend wohl die meisten Neuanstiege im Grazer Bergland eröffneten, weder Kosten noch Mühen scheuten, um den allerersten Kletterweg des Grazer Berglandes zu revitalisieren, beantworten wir mit Auszügen aus dem Schlusswort des „Kletterführer durch das steirische Alpenvorland“ von Franz Berghold, aus dem Jahr 1967.
„Aber wahrscheinlich werden dir nach einiger Zeit deine vertrauten Klettergärten zu wenig sein; die großen Wände der Alpen werden dich anziehen, Hochschwab, Dachstein, Dolomiten….
Vergiss aber nie deine heimatlichen Kletterfelsen, die dir viele unvergessliche Erlebnisse geschenkt haben, in denen du dir dein klettertechnisches Können geholt hast und die dir Sprungbrett für deine spätere Laufbahn als Bergsteiger waren.
Und ob du jetzt aus Bergbegeisterung kletterst, ob du Klettern als Sport betreibst, oder ob du einen goldenen Mittelweg einzuschlagen versuchst, merke dir eines: Am Ende steht immer die Freude. Empfinde diese Freude!“
Franz Berghold hat somit bereits im Jahr 1967 die Frage nach dem „Warum?“ für uns beantwortet. In einer Art und Weise, welche zeitlos ihre Gültigkeit hat für all jene, welche Freude am Klettern haben. Und wer den Fontanesteig heute wiederholt, der wird zu seiner Überraschung nicht nur die Worte „OHA KAMIN“ am Beginn desselben vorfinden, sondern auch ein kleines, frisch gesetztes Fichtenbäumchen am Beginn des „Fichtenkamines“.
Text: Peter Pesendorfer
Fotos: Peter Pesendorfer und Rüdiger Hohensinner
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