Die indische Kashmir-Region im Grenzgebiet von Pakistan und China war in den letzten Jahren weniger im Zusammenhang mit bergsteigerischen Leistungen im Gespräch, als vielmehr wegen immer wieder aufflackernden Konflikten. Faktisch war das Gebiet während rund 18 Jahren für Bergsteiger gesperrt. Dennoch entschliesst sich Stephan Siegrist mit seinen Freunden David Lama und Denis Burdet für eine Expedition in das Kishtwar Gebiet. Ihr Ziel: der Cerro Kishtwar, der wegen seiner Ähnlichkeit zum Cerro Torre, den für Indien unüblichen Namenszusatz ‚Cerro’ trägt.
Der Start der Expedition gestaltet sich schwierig: nach einer beschwerlichen Anreise muss das komplette Basislager nochmals verschoben werden – weil es aufgrund fehlender genauer Karten zu weit vom Cerro Kishtwar entfernt aufgebaut worden war, um überhaupt an eine Begehung im Alpinstil zu denken. Dafür läuft es Stephan Siegrist, Denis Burdet, David Lama und dem Filmer und Fotografen Rob Frost am Berg ziemlich flott: Am zweiten Tag am Berg entdecken sie eine von unten nicht einsehbare logische Linie: eine dünne, versteckte Eislinie, die sich wie eine Banane bis 200 Meter unter den Südgrat zieht. Nach einem Ruhetag im Camp1 fackeln sie nicht lange und wagen mit leichtem Gepäck im Alpinstil einen one-push-Angriff auf den Gipfel. Die Route führt im unteren Teil mehrheitlich über Eis – respektive „übereisten Schnee“ wie Stephan es beschreibt: „Das ermöglicht uns ein rasches Vorankommen, allerdings sieht es mit der Absicherung weniger traumhaft aus! Eisschrauben zu drehen ist sinnlos – dafür ist das steile Schnee-Eis viel zu weich! Lange Runouts sind an der Tagesordnung, hin und wieder findet man die eine oder andere Sicherungsmöglichkeit im Fels“.
Das Couloir steilt sich teilweise bis 85 Grad auf, wird aber wieder flacher. Danach folgen senkrechte Aufschwünge im Fels mit Schwierigkeiten bis zum 6. Grad. Erschwert wird der Aufstieg durch regelmässige Spinndrift-Duschen. David: „Es gibt wahrlich schöneres bei Minus 25°…“. Auf dem Südgrat kommen die Kletterer endlich an die Sonne und können ihre Füsse aufwärmen. Am Grat folgt nochmals eine schwierige Kletterstelle, danach geht es über ein paar leichtere Felspassagen auf einen Schneegrat. Um 13.15 Uhr steht das gesamte Team inkl. Fotograf und Kameramann Rob Frost bei prächtigstem Wetter auf dem Südgipfel, während der zweite Fotograf/Filmer Stefan Schlumpf den Aufstieg vom ABC aus verfolgt hat.
Stephan Siegrist: „Wir messen eine Höhe von 6155 Metern. Also nicht 6200 Meter wie bisher angenommen. Wir schauen rüber zum Nordgipfel und erkennen, dass dieser tiefer liegen muss“. Dennoch seilen Denis, David und Steph vor dem Abstieg noch in die Scharte zwischen dem Doppelgipfel ab auch den Nordgipfel zu besteigen. Ihre Messungen bestätigen eine Höhe von 6150 Metern – also 5 Meter weniger als der Hauptgipfel. 26 Mal abseilen bringt die erfolgreichen Gipfelstürmer kurz vor Einbruch der Dunkelheit zurück ins Camp1. Am nächsten Morgen geht die Abseilfahrt weiter bis ins ABC.
Jackpot für jeden Bergsteiger
Da noch etwas Zeit bleibt (eine Woche) bis zur Abreise, wollen Stephan und Denis noch ein zweites Ziel in der gleichen Kette in Angriff nehmen. Sie steigen im ersten Tag bis zum Fuss des unbekannten Berges und entscheiden sich für die direkte Linie in der Nord-Nordwestwand. Um 03.30 Uhr läutet der Wecker. „Gut eingespielt und bestens akklimatisiert steigen wir ein. Zu zweit sind wir schnell. Wir klettern in Wechselführung und folgen erst einer Eisrinne, dann einem übel lawinenträchtigen Quergang, bis wir uns in einem tief eingeschnittenen Couloir wieder finden“ beschreibt Stephan den Beginn ihrer Route. Danach wird es delikater: Kaminkletterei („wie an der „Exocet“ am Cerro Standarth“), Dry-Tooling, bis 90° steiles Eis, sehr delikate Sicherungspunkte und sogar ein Dach gilt es zu überwinden. Auch der letzte Teil der Route hat es in sich, denn auch dieser Berg hat einen Doppelgipfel: „… wir deponieren einen Rucksack. Danach klettern wir über furchtbar loses Gestein in der Nordseite. Nach zwei Seillängen entdecke ich ein Loch im Grat, gerade gross genug um durchzuschlüpfen und so auf die Südseite zu gelangen. Und tatsächlich finden wir hier deutlich besseren Fels vor. Nach ein paar weitern Längen stehen wir auf dem Gipfel. Genial!“.
Das GPS zeigt 6040 Meter über Meer. Denis und Steph bauen rasch einen Steinmann und machen sich wieder auf den Abstieg über den vermeintlich einfacheren Südgrat. Doch der zeigt sich widerspenstiger als erwartet: Absteigen geht nur über den Grat. Das heisst: immer wieder auf Gendarmen klettern und Abseilen. Erst zum Schluss können sie in die Eisflanke wechseln und dort mit viermaligem Abseilen um 19.00 Uhr das Camp erreichen. Jeden Keil, jeden Haken und jede Reepschnur ist aufgebraucht! Eine neue Tour im Auf und im Abstieg. Und das alles bei perfektem Wetter – das ist so etwas wie ein ‚Jackpot für jeden Bergsteiger.
Andy Perkins und Brendan Murphy hatten Anfang der 90er Jahre einen unglaublichen 15-tägigen Effort in der Nordwestwand des Cerro Kishtwar geleistet, mussten aber schließlich, keine 100 Meter unter dem Gipfel, umdrehen. Von Andy Perkins bekamen wir freundlicherweise auch sehr viele Informationen über das Gebiet. Mike Fowler und Steve Sustad gelang dann 1993 die Erstbesteigung des Cerro Kishtwar.
Text: Stephan Siegrist
FACTS: Erstbegehung am Cerro Kishtwar: Route: ‚Yoniverse’, 1200m, WI 5, 6a, Alpinstil, keine Bohrhaken
Nordwestwand und Südgrat zum Haupt -(Süd)Gipfel (6'155 Meter)
25. – 29. September 2011
Kletterer: Stephan Siegrist (CH), Denis Burdet (CH), David Lama (AUT)
und Rob Frost (USA) zusätzlicher Fotograf + Filmer: Stefan Schlumpf (vom ABC aus)
Erstbsteigung White Sapphire: Route: Aufstieg: ‚la virée des contemporains’- was frei übersetzt „der
Bummelausflug der Zeitgenossen“ heisst, 850m, WI 5 (Crux: 2
Seillängen WI 6), M6, A2, Abstieg: über den Südgrat ‚Eagles-ridge’, Alpinstil, keine Bohrhaken
Westwand über den Süd- zum zum Haupt -(Nord)Gipfel (6'040 Meter)
4. - 5. Oktober 2011
Kletterer: Stephan Siegrist (CH), Denis Burdet (CH)
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